Mit Sokrates Scheinwissen aufdecken

Von dem griechischen Philosophen Sokrates wissen wir, dass er seinen Zeitgenossen gehörig auf den Geist gegangen ist. Mit seinem ständigen Nach-Fragen, Hinter-Fragen und Nochmal-Fragen hat er die Athener in ihrem Freiluftwohnzimmer, dem Marktplatz „genervt“. Das war ihm natürlich bewusst. Und so bezeichnete er sich sogar selbst als eine lästige Stechmücke.
Für seine Gesprächspartner muss es wirklich „schlimm“ gewesen sein, wenn er sie mit ihrem Scheinwissen konfrontierte und ihr Nichtwissen aufdeckte. Deshalb wollten sie ihn dann auch loswerden und verurteilten ihn im Alter von 70 Jahren zum Tod.
Dabei wollte sollte Sokrates seine Gegenüber doch gar nicht bloßstellen, sondern ihnen mit Hilfe der Elenktik (griech. elenchos: Fragen, Prüfen, Widerlegen), so wird seine Gesprächsmethode genannt, dazu verhelfen, selbständig zur Erkenntnis zu gelangen. Er leistete ihnen also lediglich Hilfe zum Nachdenken und Entdecken, so dass sie selbst zum „richtigen Handeln“ gelangen. Aber dazu war es natürlich notwendig, zuerst einmal das sicher Geglaubte in Frage zu stellen.

Der Schauplatz des Scheinwissens sind heute weniger die Markplätze. Die Sophisten, absoluten Wahrheitsbeansprucher, Dogmatiker, Blender, Wahrheitsverdreher, Alternativblinde, Debattenunterdrücker, Basta-Politiker und Mainstreamplapperer findet man heute in den Talk-Shows, in sog. Expertengesprächen, in öffentlichen Stellungnahmen von Gruppen, Verbänden und Organisationen, in sozialen Netzwerken wie Twitter u.a. Wie wäre es hier mit einem Stechversuch, wenn einem etwas „nicht ganz koscher“ vorkommt? Dieser könnte mit folgenden Fragen an das Gegenüber erfolgen: Gilt das immer, was Sie da sagen? Können Sie das beweisen? Gibt es Belege für Ihre Aussage? Können Sie Beispiele dazu nennen? Können sie Argumente für Ihre Annahme anführen? Gibt es Daten, die Ihre Annahme unterstützen? Gibt es vielleicht auch eine Alternative? Könnten Sie eventuell falsch liegen? Haben Sie alle Konsequenzen berücksichtigt?

Zu einem Stechversuch braucht man natürlich schon ein bisschen Mut, denn heute kann man schnell ins Visier geraten und einen Shitstorm ernten, wenn man etwas infragestellt.

— Andreas Steffel